Den eigenen Phantasierahmen nutzen
Ein Interview mit Christa Nebenführ
Wer daran interessiert ist, mehr als drei Schritte zur persönlichen und authentischen Schreibweise zu gehen, ist im Workshop von Christa Nebenführ genau richtig.
BÖS: Heutzutage sollte ja jeder authentisch sein, weil authentisch auch irgendwie attraktiv bedeutet. Wie trägt Authentizität zur Attraktivität von Texten bei?
Christa Nebenführ: Sehen wir uns doch einmal den Begriff Authentizität an. Ich habe soeben eine Radiokollegserie mit dem Titel „Leitmotiv Ehrgeiz – Ansporn oder Enttäuschungsfalle?“ gestaltet, die vom 04. bis 07.04.2022 jeweils um 09.05 auf Ö1 gesendet und um 22.05 wiederholt wird. Daraus wird ersichtlich, wie viele Facetten dieser Begriff hat und auch, dass er in unterschiedlichen Kontexten eine völlig unterschiedliche Bedeutung entfaltet. Und in vier Folgen einer Wissenschaftsserie sind die Deutungsmöglichkeiten noch lange nicht erschöpft. In der dritten Folge kommt dabei auch die Depression zur Sprache, die in neueren psychologischen Forschungsergebnissen mit toxischem Ehrgeiz in Verbindung gebracht wird. Daran kann man sehen, wie in diesem Fall die Wissenschaft versucht, ein vielgestaltiges Phänomen „auf den Begriff zu bringen“. Literarisches Schreiben versucht im Idealfall die Aura eines Begriffes durch Erzählen oder andere Verfahrensweisen sichtbar zu machen. Deshalb heißt mein Workshop: „Ein Begriff und eine Erfahrung.“ Ich versuche, mit den Teilnehmer:innen eine Idee zu beschreiben, ihr nachzuspüren, und die Beschreibung gegebenenfalls durch die erfahrenen Erinnerungen und Empfindungen zu erweitern, aber vielleicht auch einzugrenzen.
Der Workshop ist so aufgebaut, dass am ersten Vormittag Theorien zum Begriff der Authentizität in der Literatur gemeinsam erarbeitet und reflektiert werden. Der Nachmittag ist der “Textproduktion” gewidmet, bei der im anschließenden Feedback von allen an allen Texten analysiert wird, ob die beabsichtigte “Authentizität” sich auch Lesenden beziehungsweise Zuhörenden erschließt. Der zweite Vormittag ist einer Übung gewidmet, die ich bei George Tabori gelernt habe, und bei der die TeilnehmerInnen nach einer Entspannungsphase von mir in einen Phantasierahmen geführt werden, den sie selbst “ausmalen”. In vielen Fällen entsteht dadurch ein neuer, tieferer Zugang zum am Vortag bearbeiteten Thema, allerdings nicht immer. Nach einer zweiten Schreibphase richten wir unser Augenmerk auf die Veränderung im Schreibprozess.
BÖS: Woran kann man selbst erkennen, ob eigene Texte authentisch sind?
Christa Nebenführ: Hier darf ich eine Liedzeile der deutschen Pop-Band „Die Ärzte“ zitieren:
„Jetzt weiß ich nicht, was ich denken soll,
Ist es wirklich Liebe oder find’ ich dich nur toll?“
Man kann „Authentizität“ nicht erkennen wie einen Gegenstand. Man kann sie nur zuschreiben. Mit ein wenig Vermessenheit den eigenen Texten, mit etwas mehr Demut anderen.
BÖS: Welche/n Schriftsteller/in findest du persönlich authentisch?
Christa Nebenführ: In willkürlicher Reihenfolge: Clemens Setz, Joseph Winkler, Jean Genet, Edo Popovic, Sylvia Plath, Juri Hudolin, Ivana Sajko, Guy de Maupassant, Stendhal, Ingeborg Bachmann, Henri Marivaux, Heinrich Heine, Friedrich Schiller, Chris Kraus, JJ Bola, Margit Schreiner, Anna Mitgutsch und sehr viele andere. Allerdings bedeutet das nicht, dass ich jedes ihrer Werke als authentisch empfinde, aber mindestens eines.
Authentizität ist kein Klassifizierungsmerkmal. Anfang der 1980er Jahre begründete Eva Heller mit ihrem in sich stimmigen und damit authentischen Roman “Beim nächsten Mann wird alles anders” das Genre der “Chicklit”. Zahlreiche Apologetinnen wie beispielsweise Hera Lind kupferten die Struktur ab und verdienten mit kitschiger Massenware ziemlich viel Geld, andere wie Maria Lewycka ließen sich inspirieren und schufen neue, authentische Werke, die das Genre erweiterten.
Der Workshop führt nicht in drei oder mehr Schritten zu einer authentischen Schreibweise, sondern bietet die Möglichkeit, sich einer Eigenschaft anzunähern, der künstlerisches Potential zugeschrieben wird.
Christa Nebenführ leitet den Workshop “Authentizität, ein Begriff und eine Erfahrung“ am 2./3. April 2022. Anmeldungen unter office@boesmail.at